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[casi] German orientalist Sommerfeld on Iraq



This article by Professor Sommerfeld partly overlaps with his previous one on
the looting of the Museum, but contains a lot of valuable additional material
as well.
I only found it in German, but may be useful for many on the list.

Best,
Attila

http://www.embargos.de/irak/irakkrieg2/berichte/land_unter_schock_sommerfeldh
tm

Land unter Schock – Der Irak nach dem Krieg

von Prof. Dr. Walter Sommerfeld, Marburg

Der Krieg ist vorbei. Es herrscht Anarchie. Und die Lage ist explosiv.

Walter Sommerfeld ist Professor für Altorientalistik in Marburg, bereist den
Irak seit 20 Jahren und forschte dort gemeinam mit irakischen Wissenschaftler.
Als einer der ersten deutschen Wissenschaftler besuchte er den Irak nach dem
Krieg. In dem nachstehend ungekürzt wiedergegebenen Zusammenfassung seiner
Eindrücke und Ermittlungen berichtet er über die katastrophale Situation, die
nach der Okkupation durch die US-Amerikaner entstand, die Beihilfe der
US-Truppen beim Plündern, die irreprablen Schäden am kulturellen Erbe
Mesopotamiens und die Stimmung in der Bevölkerung. (s. auch seinen Bericht in
der Süddt.- Zeitung, vom 10. Mai 2003 Museen-Plünderungen in Bagdad - "Go in
Ali Baba! It´s all yours")

Der Fall von Baghdad

Nach unerwartet harten wochenlangen Kämpfen im Süden kam der plötzliche Fall
von Baghdad am 9.4.2003 ebenso unerwartet. Was war geschehen?

Die folgende Schilderung geben unmittelbar Beteiligte, die tendenziell
zutreffen dürfte, auch wenn die Details gegenwärtig noch nicht ausrecherchiert
werden können.

Nachdem die US-Armee den Flughafen schnell besetzen konnte – auch unter
Verwendung von Waffen, die die Maschinengewehre der Iraker zum Schmelzen
brachten und von den Gefallenen nur Knochen ohne Fleisch übrig ließen – begann
der Vormarsch in die Stadt. Noch bei meiner Einreise am 25.4. waren auf der
Einfallstraße dutzende von ausgebrannten normalen Zivilfahrzeugen zu sehen,
die im Weg gewesen waren und eliminiert wurden, wobei die zivilen
Wageninsassen, auch viele Frauen und Kinder, zu Tode kamen. Ich habe ca. 400 m
von dieser Straße entfernt auch Streubombeneinschläge an einem Privathaus
gesehen.

Es folgten erbitterte Straßenkämpfe in einigen Teilen von Baghdad. Saddam
Hussein rief am 6. oder 7.4. in der Umm-al-Tabul-Moschee militärische
Kommandeure zusammen. Er war sehr erzürnt, weil die Truppen im Süden zähen
Widerstand geleistet hatten, der Flugplatz hingegen nicht gehalten worden war.
Er befahl eine sofortige Gegenoffensive. Als diese Kommandeure auf dem Weg in
das Flughafengebiet waren, wurden sie durch einen amerikanischen Angriff
getötet.

Von der Sinnlosigkeit des militärischen Widerstands überzeugt, wollten hohe
Kommandeure die Kapitulation, um die völlige Zerstörung von Baghdad zu
verhindern. Ob es Geheimabsprachen mit den Amerikanern gab, konnte oder wollte
kein Informant benennen. General Saif Ad-Din Ar-Rawi gab am 8.4. den Befehl,
den Widerstand aufzugeben. Daraufhin schickte Saddam Hussein seinen Cousin,
der in erschoß. Die Meuterei war jedoch nicht mehr aufzuhalten. Am Abend wurde
in ganz Baghdad der Strom abgestellt, und im Dunkeln setzten sich die
führenden Kommandeure ab. Als am Mittwochmorgen Einheiten der Republikanischen
Garden, aber auch Regierungsmitglieder, die Ordnungskräfte der Baath-Partei,
Polizisten usw. feststellten, daß ihre Führer verschwunden waren, entfernten
sie sich vom Dienst. Widerstand wurde nur noch in einigen Stadtgebieten
geleistet, und Baghdad konnte von den Amerikanern schnell eingenommen werden.

 Anarchie

Seitdem herrscht in Baghdad allgemeine Anarchie. Eine 5-Millionen-Stadt lebt
ohne Regierung, Polizei, Justiz, ohne Ampeln, Gehälter, Büros.

Jeder ist bis zu den Zähnen bewaffnet, Schießereien sind in ganz Baghdad rund
um die Uhr zu hören, vor allem nachts. Dabei sind Kampfhandlungen
vergleichsweise selten, man schießt zur Warnung, aus Angst oder auch aus
Freude, wenn in einem Viertel überraschend der Strom kommt für maximal zwei
Stunden am Tag.

Es kann aber auch überall schnell gefährlich werden. Im Viertel, das in der
Innenstadt direkt hinter dem Iraq Museum liegt, tobten am 1.5. den ganzen
Abend lang heftige Kämpfe. Dabei wurde eine Tankstelle getroffen, deren
Explosion mehrere Menschen tötete. Als ich mich am nächsten Morgen einige
Stunden am Museum aufhielt, waren die Schießereien wieder in vollem Gange. Ein
Anwohner kam zu den amerikanischen Posten am Museum und teilte mit, daß es
wieder einen Toten und mehrere Verletzte gegeben habe. Der lakonische
Kommentar der Soldaten lautete: "Nice neighbours!" Eine Intervention fand
jedoch nicht statt.

Ab 23 Uhr herrscht Ausgangsperre, die Stadt ist gespenstisch dunkel.
Sicherheit ist die zentrale, pausenlos wiederholte Sorge der Bevölkerung. Die
Menschen äußern Befürchtungen wie diese eines Dekans der Universität Baghdad:

"Ich habe Angst, an die Uni zu gehen, solange es keine Regierung gibt. Ein
Student, den ich bestraft oder schlecht benotet habe, könnte kommen und mich
niederschießen. Niemand kümmert sich darum. Es gibt keinen Schutz, keine
Verfolgung, keine Bestrafung."

Alle früheren Angestellten der Regierung – die Hunderttausende Lehrer, Ärzte,
Professoren, Beamten der Behörden usw. – klagen heftig darüber, daß sie seit
fast zwei Monaten keine Gehälter bekommen haben. Viele Leute, die keine
finanziellen Reserven haben, wissen nicht, wovon sie Nahrung kaufen sollen.

Die Beschaffungskriminalität grassiert infolgedessen. Diebstahl,
Raubüberfälle, auch Raubmorde sind an der Tagesordnung. Mir wurden viele Fälle
berichtet, daß Räuber am hellichten Tag auf offener Straße unter Bedrohung
durch Waffen Autofahrer gezwungen haben, das Fahrzeug abzugeben. Wer bislang
noch keine Waffe hatte, besorgt sie sich jetzt. Aus den geplünderten
Armeebeständen sind so viele (auch schwere) Waffen zu günstigen Preisen auf
dem Markt erhältlich, daß man damit eine kleine Armee ausrüsten könnte.

Die Mittel- und Oberschicht hat Angst um ihr Leben und bleibt möglichst zu
Hause und wartet ab. Die Angehörigen der repressiven Sicherheitsdienste und
viele aktive Mitglieder der Baath-Partei sind untergetaucht – bei Verwandten,
in Zweitwohnungen, auf dem Land.

Noch werden Plünderungen von Privathäusern nur vereinzelt berichtet (z. B. in
Vierteln, wo die Fensterscheiben der Häuser im Krieg zerborsten sind), und
auch die Femejustiz ist bislang selten. Sie wird aber allgemein befürchtet
oder auch erwartet, denn es sind aus der Zeit der Diktatur viele Rechnungen
offen geblieben, weil vielen Menschen großer persönlicher Schaden durch die
Mächtigen zugefügt wurde. Wenn sich wieder Machtstrukturen herausbilden und
die früheren Cliquen wieder auftauchen und Positionen zu besetzen suchen, ist
eine Endemie von Lynchmorden möglich, so wie auch die Revolutionen der
Vergangenheit mit einem Blutbad der persönlichen Abrechnungen verbunden waren.
Selbst einen Bürgerkrieg zwischen den alten Netzwerken, die noch keineswegs
alle zerschlagen sind, den jetzt an die Macht strebenden neuen Gruppen und
Selbstjustiz suchenden Bürgern hält jeder Iraker für denkbar.

Die Traumatisierung der Bevölkerung begegnet dem Besucher überall. Vor allem
die Kinder haben schwere psychische Schäden erlitten; der Terror des
Dauerbombardements ("Shock and awe") hat ihre Seelen getroffen – sie
erschrecken vor zuschlagenden Türen, zittern bei überfliegenden Hubschraubern
und suchen ständigen Schutz. Erwachsene aus der Innenstadt erzählen, daß sie
drei Wochen lang kaum die Sonne gesehen haben – einerseits wegen der zur
Irritation des Feindes angezündeten Gräben, die mit Öl gefüllt waren,
andererseits wegen der langen Brände getroffener Gebäude. In mehreren
Stadtteilen wurde mir von Blutbädern unter der Zivilbevölkerung berichtet, die
sich zufällig in der Nähe von bekämpften militärischen Verbänden befanden
("Kollateralschäden").

Es gibt aber auch Lichtblicke. Die Bürgerhilfe lebt auf und ist erstaunlich
erfolgreich. Viele Viertel haben zum Schutz eine Bürgerwehr gebildet, normale
Menschen regeln mit selbstgebastelten Schildern den Verkehr. Die Menschen
helfen sich untereinander mit Lebensmitteln und dem Nötigsten aus, räumen ohne
Gehälter ihre verwüsteten Dienststellen auf. Die Iraker sind
Improvisationskünstler.

 Systematische organisierte Plünderung und Brandschatzung

Besonders geschockt sind die Iraker vom Wandalismus, mit dem Infrastruktur und
Kultur zerstört wurden. Die Berichte zahlreicher, unabhängiger Zeugen gleichen
sich derartig im Detail, daß sie einen realen Kern haben müssen. Zumindest
spricht folgende Beschreibung der allgemeinen Überzeugung, die in Zukunft das
Verhältnis der Bevölkerung zur "Koalition der Willigen" beeinflussen wird.

1. Die Plünderungen waren systematisch

In einem Stadtteil nach dem anderen wurden die Einrichtungen des alten Staates
vollständig ausgeraubt – selbst fest installierte Anlagen wurden
einschließlich der Steckdosen abmontiert – und was sich nicht zu plündern
lohnte, wurde zerschlagen, umgestoßen, auf dem Boden zerstreut usw. Betroffen
sind unter anderem:

alle Ministerien und State Departments bis auf das Ölministerium,
die 15 Universitäten des Landes (mit Ausnahme des Campus der Universität
Baghdad, wo die Amerikaner Quartier aufgeschlagen haben),
die Museen (darunter das weltberühmte Iraq Museum), Bibliotheken, Archive,
Kunst- und Kulturzentren,
Krankenhäuser, staatliche Warenlager, Banken,
Paläste und Wohnhäuser der führenden Vertreter des Regimes,
Hotels (z. B. Rasheed, Melia Mansour, Babil),
einzelne andere Einrichtungen wie die deutsche Botschaft, das französische
Kulturinstitut, die Residenz des chinesischen Botschafters, einige Gebäude von
UNO-Einrichtungen.
Die Plünderungen sind noch immer nicht gestoppt, auch Anfang Mai waren sie den
ganzen Tag über an vielen verschiedenen Stellen anzutreffen.



2. Die Plünderungen waren angestiftet oder toleriert

Viele Gesprächspartner berichten von verzweifelten Versuchen, Soldaten zum
Einschreiten zu bewegen – ohne Erfolg. Selbst Interventionen bei der
Kommandantur im Palestine-Hotel (z.B. durch UNO-Mitarbeiter zum Schutz ihrer
Gebäude) blieben unerhört. Im Gegenteil: Die Plünderer fühlten sich sicher,
sie trugen strahlend vor laufender Kamera die Sachen aus den Gebäuden und
hörten erst auf, als alles ausgeraubt war. Es plünderten einfache Leute aus
den Armenvierteln, aber – zumindest in einigen Gegenden – viele normale und
auch gut gestellte Bewohner aus der Nachbarschaft. Die Menschen stahlen aus
Armut, Wut, Rache, Gier. Das Beutegut wurde oft noch am selben Tag auf der
Straße verkauft – manchmal zu Spottpreisen, etwa eine Klimaanlage für
umgerechnet 5 Euro.

Das überraschendste Detail bei den Schilderungen war der Umstand, daß die
amerikanischen Soldaten erst die Plünderungen ermöglichten, indem sie die oft
sehr gut gesicherten Tore aufbrachen oder aufschossen und dann die Umstehenden
aufforderten zu plündern: "Go in, Ali Baba, its yours!" Diesen Standardsatz
haben Augenzeugen wiederholt gehört, "Ali Baba" ist unter den Amerikanern zum
Inbegriff für plündernde Iraker geworden. Regelmäßig wird auch von Kuweitis
berichtet, die die Truppen als Übersetzer und Führer begleiten und zum
Plündern einluden. Ein Zeuge erzählte, wie die Soldaten lachend auf ihren
Panzern saßen und zuschauten.

Solche zuverlässigen Darstellungen wurden mir von einem Nachbarn und einer
unabhängigen Zeugin von der Zerstörung der deutschen Botschaft mitgeteilt:
Nachdem ein amerikanisches Militärfahrzeug das Tor aufgebrochen hatte, wurden
die Umstehenden zur Plünderung aufgefordert.

Mit Gewißheit zuerst bedient haben sich die Amerikaner an der University of
Technology, wo sie in die Gebäude eindrangen, die Computer öffneten und die
Festplatten an sich nahmen, bevor sich die Plünderer ans Werk machten. Dies
berichtete ein Mitarbeiter des UN Development Programme.

Ob in allen Fällen dieses System von Anstiftung oder Tolerierung wirksam war
oder nur in Einzelfällen, kann noch nicht beantwortet werden. Die immer
ähnlich lautenden selbständigen Berichte sind allerdings überall zu hören.

3. Die Brandschatzung war unabhängig und sekundär

Die Plünderer haben geraubt und zerstört, aber nicht verbrannt. Nach ihnen
kamen Brandschatzer, die systematisch ein ausgeraubtes Gebäude nach dem
anderen mit Benzin (und zumindest teilweise auch mit brennbaren Chemikalien)
in Brand setzten. Der zeitliche Abstand betrug manchmal mehrere Tage. Von der
Brandschatzung blieb nicht viel verschont (darunter glücklicherweise das Iraq
Museum), es wurden aber auch Gebäudeteile verbrannt, die nicht geplündert
worden waren (z. B. die Finanzbuchhaltung einer UNO-Einrichtung). Opfer der
Flammen wurden vor allem Papiere, Dokumente und Gebäude, von denen mehrere
nach tagelangen Bränden zusammenbrachen.

 Die Folge: Es sind praktisch alle Unterlagen des alten Staates vernichtet,
die gesamte Administration fängt bei Null an. So gibt es für Baghdad kein
Grundbuch mehr, und damit ist kein Eigentumsnachweis mehr möglich. Dieser
Umstand wird bereits jetzt von Milizen genutzt, um Bewohner aus gut gelegenen
Anwesen zu vertreiben und diese dann für Büros und Stützpunkte zu nutzen. –
Eine Gruppe von 20 schwerstverletzten Kindern, für die in Europa bereits
Behandlungsplätze vorbereitet waren, konnte nicht ausreisen, weil niemand
Reisedokumente ausstellen kann. Einige sind inzwischen gestorben, andere
konnten in Saudi-Arabien behandelt werden.

Während die ungenierten Plünderungen von vielen Menschen beobachtet wurden,
die zahlreiche Details benennen können, sind zur Identifizierung des relativ
kleinen Kreises der Brandschatzer nur sehr vage Angaben erhältlich: "Geraubt
haben die Iraker, verbrannt haben andere."

Über die Gründe für diesen systematischen Wandalismus wird viel spekuliert.
Gebildete Iraker nennen folgende Gesichtspunkte:

Die Aggressionen wurden gezielt umgelenkt – statt gegen die Besatzer sollten
sie sich gegen die Institutionen des alten Regimes richten.
Der Wiederaufbau ist sehr lukrativ, wenn die gesamte Infrastruktur des Staates
zerstört ist, aber nur ein kleines Geschäft, wenn noch fast alles einigermaßen
funktioniert.
Die Verwirrung in der Bevölkerung ermöglicht eine leichtere Kontrolle, da
jedermann mit dem Überleben beschäftigt ist; auch eine von außen implantierte
Regierung wird leichter akzeptiert. "Wenn ich dir den Tod zeige, akzeptierst
da das Fieber." (irakisches Sprichwort)
Vertuschen eigener Taten, denn in nicht wenigen Fällen waren die Besatzer die
ersten, die in Gebäude eindrangen und Objekte entfernten.
Den Kuweitis soll Gelegenheit zur Rache gegeben werden; dort hatten die Iraker
während der Besatzung 1990/91 ebenfalls systematisch geplündert (aber nicht
gebrandschatzt).
Denkzettel für Deutschland, Frankreich, die UNO und andere: es gehört sich
nicht, unbotmäßig zu sein.
Publicity Show für das amerikanische Publikum – die Botschaft lautet: "Die
bösen Iraker zerstören alles, und wir guten Amerikaner müssen das wieder
aufbauen." Die ersten Brände wurden gegenüber dem Journalistenhotel Palestine
gelegt und waren sehr fotogen.
Viele gebildete Iraker äußern sich schockiert über ihre wandalisierenden
Landsleute und geben als Erklärung an, daß sich die Mächtigen des vergangenen
Regimes schonungslos bereichert hätten, mit dem exerzierten Recht des
Stärkeren ein schlimmes Beispiel gegeben und den Volkscharakter verdorben
hätten. Sie sagen aber auch: Nach 35 Jahren harter Diktatur war die irakische
Bevölkerung leicht einzuschüchtern, und ohne Ermutigung und Tolerierung wären
die Plünderer nicht so sicher und hartnäckig gewesen: "Eine einzige Kugel
hätte genügt, und alle wären verschwunden!"


Die Plünderung des Iraq Museums

Folgende Schilderung beruht auf den Berichten von Mitarbeitern des Museums und
Bewohnern der umgebenden Wohngebiete, die als Augenzeugen die Vorgänge
unmittelbar erlebt haben. Die meisten wollen anonym bleiben, weil sie sich vor
Repressionen fürchten und auch in Zukunft notgedrungen mit den Amerikanern
zusammenarbeiten müssen.

Am Dienstag, den 8.4., fanden heftige Kämpfe in unmittelbarer Nähe des Museums
statt, das im Stadtzentrum liegt und von strategisch wichtigen Punkten umgeben
ist. Die bewaffnete zivile Schutztruppe, die zur Sicherung des Museums vor
Überfällen aufgestellt war, verließ in Todesangst das Gelände, das dann nach
schweren Kampfhandlungen ("the museum was a real battle field") in die Hände
der Amerikaner fiel. Am nächsten Tag rückten zwei Panzer an, so ein befragter
Museumsangestellter; amerikanische Soldaten brachen die Tür des Hauptgebäudes
auf und verweilten ca. zwei Stunden unter sich in den Ausstellungssälen. Sie
wurden dann gesehen, wie sie Gegenstände herausbrachten und fortschufen. Um
welche Objekte es sich dabei genau handelte, konnten die Beobachter nicht
identifizieren. Es ist nur sicher, daß sich die meisten großen und auffälligen
Exponate noch vor Ort befanden, weil deren Bergung schwieriger war, und daß
nur die kleinen Objekte aus den Vitrinen in die Magazine gebracht worden
waren.

Die zufällig anwesenden Iraker wurden dann aufgefordert, sich im Museum zu
bedienen, wie ein Anwohner erzählte: "This is your treasure, get in!" Von
Donnerstag bis Samstag, 10. bis 12.4., tobten die Plünderungen völlig
unbehindert. Die Plünderer fühlten sich sehr sicher, selbst vor laufender
Kamera brachten sie ungeniert die Objekte ins Freie und trugen sie davon –
entsprechende Fernsehbilder gingen damals um die ganze Welt. Die wenigen an
ihren Platz zurückgekehrten Museumsmitarbeiter konnten sie nicht aufhalten,
sie versuchten aber mehrfach verzweifelt, in der Umgebung anwesende
amerikanische Truppen zum Schutz zu bewegen. Es erschienen nur ganz kurz
einige Soldaten, sahen sich die Vorgänge an und verschwanden wieder ("This is
not our order.").

Einige Augenzeugenberichte, die weitere Details mitteilen, waren in einem
Fernsehbeitrag des ZDF zu sehen ("Aspekte", Freitag, 9.5.2003, 22.30 Uhr); der
Wortlaut dieser Aussagen ist im Anhang wiedergegeben.

Nachdem die Plünderungen nicht hatten verhindert werden können, hatten die
Mitarbeiter allergrößte Sorge, daß die Brandschatzer wie auch sonst ans Werk
gehen und die unersetzbaren Dokumentationen, Grabungsunterlagen und die
Bibliothek mit Feuer vernichten würden. Zwei Direktoren des Antikendienstes
machten sich am Sonntag, den 13.4., zur Kommandozentrale der Amerikaner im
Palestine-Hotel auf, wurden nach vierstündiger Wartezeit vorgelassen und baten
dringlichst um Schutzmaßnahmen. Die Kommandantur versprach, sofort Panzer und
Soldaten zu schicken – bis Dienstag geschah nichts. Daraufhin gelang es einem
Direktor, sich ein privates Satellitentelefon zu leihen und einen Kollegen im
British Museum zu erreichen. Der mobilisierte dann britische und amerikanische
Stellen, und schließlich fuhren Panzer auf, die seitdem das Museum bewachen.

Jetzt ist es das bestgeschützte Museum der Welt – seine Angestellten und sogar
die Direktoren, die allesamt ohne Gehalt kommen für die Aufräumarbeiten und
die Aufnahme der Schäden, werden nur nach genauer Identitätsüberprüfung und
Gepäckkontrolle zugelassen (und sind darüber sehr empört). "Wir entscheiden,
wer wann hineinkommt" sagte mir der wachhabende Soldat am Eingang. In einem
Seitentrakt werden die zurückgewonnenen Objekte aufbewahrt. Als mich der
Generaldirektor am 30.4. dort herumführte, war die Zahl dieser Funde, die auf
großen Tischen ausgebreitet waren, nicht viel größer als 100 – bewacht von
etwa einem Dutzend Soldaten, die im selben Raum ihre Feldbetten aufgeschlagen
hatten.

 Über den Umfang dessen, was geraubt wurde, läßt sich bisher nur sagen, daß
die Schäden unermeßlich sind. Mit Sicherheit sind einige der bekanntesten
Exponate des Museums, die sich noch in den Ausstellungssälen befanden,
verschwunden. Die Plünderer konnten ungestört auch die Magazine aufbrechen,
deren Bestände insgesamt über 170.000 Inventarnummern umfaßten, und tagelang
nach Belieben alles fortschaffen. Ein Generator sorgt erst seit dem 29.4.
wieder für Licht, und die Angestellten haben mit der Inventur begonnen, die
noch Wochen in Anspruch nehmen wird. Ein Totalverlust ist nicht eingetreten,
aber der größte Teil der Kollektionen dürfte geraubt sein. Die Bibliothek
blieb erhalten, ebenso viele Grabungsunterlagen und wohl auch die meisten
Inventarbücher. Der Wandalismus hat furchtbar gewütet, aber eine alles
vernichtende Feuersbrunst konnte verhindert werden.

Antiquitäten aus den Raubzügen werden verkauft und sind besonders bei den
vielen Journalisten begehrt, so daß sich bewaffnete Banden auf der über 500 km
langen Autobahn von Bagdad bis zur jordanischen Grenze auf deren Fahrzeuge
spezialisiert haben. Ein Überfallener berichtete mir, daß die erste Frage der
Banditen war, nachdem sie mit Maschinenpistolen sein Auto gekapert hatten: "Wo
sind die Antiquitäten?" In einem Journalistenauto wurden zwölf Kisten mit
Antiquitäten gefunden!

Die allerwertvollsten Stücke – darunter der berühmte Goldfund aus den
assyrischen Königinnengräber in Nimrud – waren im Tresor der Zentralbank
aufbewahrt. Auch hier hatten Plünderer lange Zeit freie Hand, inzwischen wird
sie von Soldaten unzugänglich abgeschirmt. Selbst die Leitung des
Antikendienstes hatte noch am 2.5. keine Informationen, was von diesen
Schätzen erhalten geblieben ist und wo sie sich jetzt befinden.

Selbst seit die internationale Empörung über die Kulturfrevel im Irak
hochgeschlagen ist, wird die Verwüstung nach demselben Muster immer noch
toleriert. Unabhängig, aber übereinstimmend berichteten eine europäische
Kollegin und eine lokale Archäologin ihre Erlebnisse aus Babylon, der
vielleicht berühmtesten Stadt der Alten Welt, daß dort am Dienstag letzter
Woche, den 29.4., geplündert und gebrandschatzt wurde – unter anderem sind die
Dokumentationen über die dortigen irakischen Grabungen verbrannt. Wiederum
gingen die Vertreter des Antikendienstes zu den amerikanischen Truppen, die
sich in dem auf einer Anhöhe errichteten Palast Saddam Husseins einquartiert
haben, und baten dringend um Schutz. Sie erhielten wieder die gleiche Antwort:
"This is not our order."


 Die Universitäten

Auch die 15 Universitäten des Irak sind vollständig ausgeplündert und
gebrandschatzt worden (mit Ausnahme des Campus der Universität Bagdad in
Dschadirija, wo die Amerikaner Quartier aufgeschlagen haben).

Von der Einrichtung der Mustansarija-Universität, neben Bologna die älteste
der Welt, ist absolut nichts mehr erhalten – selbst fest installierte Anlagen
wurden einschließlich der Steckdosen abmontiert; anschließend wurden die
Gebäude abgebrannt. Im Campus der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der
Universität Bagdad in Wazirija ist fast alles vernichtet; auch das dortige
Department of Archaeology ist zerstört, das als Pendant zum Iraq Museum die
Quellen aus der mehr als 5000jährigen Hochkultur aufarbeitet und die
Nachwuchskräfte für den Antikendienst des Landes ausbildet. Einige Gebäude
sind durch die Hitze der Brände zusammengebrochen.

Von der Bibliothek der Germanistischen Abteilung, die in 50 Jahren mühsam
aufgebaut wurde und über 15.000 Bände umfaßte, sind nur noch im Brand
zusammengesunkene Regale und zu kleinen Ascheklumpen zusammengebackene Haufen
übrig geblieben – keine einzige Seite ist noch brauchbar.

Freiwillig ohne Gehalt haben sich inzwischen einige Professoren und Studenten
an die Aufräumarbeiten gemacht. Auch das ist schwierig, wie ein Kollege
klagte: Die Benzinvorräte Bagdads gehen zur Neige, eine Tankstelle nach der
anderen schließt, für eine Tankfüllung muß man 4-5 Stunden warten, der Preis
des noch erhältlichen Benzins hat sich verzehnfacht auf jetzt umgerechnet über
50 Cent pro Liter; man kann sich die Fahrten in die Universität einfach nicht
mehr leisten. Einige Räume wurden provisorisch wieder eingerichtet, und der
Kollege hat aus eigener Tasche Vorhängeschlösser gekauft, damit ihre Arbeit
nicht wieder aufs Neue zunichte gemacht wird.

Am 17.5. sollen die Universitäten wieder ihre Arbeit aufnehmen – ohne
Mobiliar, Bibliotheken, Papier, Verwaltungsunterlagen. Statt Kollegheften und
Computern sind jetzt Besen und Schaufel die wichtigsten Arbeitsinstrumente,
und die Lehrkräfte müssen aus dem Gedächtnis die Wissenschaft vermitteln.
Viele wollen dies den Studenten zuliebe tun, damit diese nicht ein ganzes Jahr
verlieren.


Großer Unmut in der Bevölkerung

So effektiv die militärstrategische Planung der Amerikaner ist, so
unvorbereitet und konzeptlos stehen sie vor den zivilen Problemen. Sie hatten
keinerlei Maßnahmen zur Versorgung der Bevölkerung vorbereitet, gegen die
Gesetzlosigkeit haben sie bislang nichts unternommen. Sie orientieren sich nur
sehr langsam, setzen heute einen verantwortlichen Direktor ein und morgen
wieder ab, eine funktionierende Regierung ist nicht in Sicht. Sie haben keine
Basis gebaut im Irak, und sie stoßen überall auf Probleme. Wie sehr die
Weitsicht bei der Okkupation fehlte, zeigt sich zum Beispiel darin, daß jetzt
mühsam Polizeikräfte aus verschiedenen Ländern rekrutiert werden müssen und
die Aktivierung von 20 lokalen Polizisten eine eigene Meldung wert ist.

Es geht aber auch anders, wenn es im Interesse der Besatzer ist. Als einziges
wurde das Ölministerium nicht geplündert und gebrandschatzt, sondern von
Anfang an geschützt. Inzwischen wurden die wichtigen Unterlagen (etwa über die
explorierten Öllagerstätten) konfisziert, die alten leitenden Angestellten
reorganisieren die Administration. Einige weitere Gebäude werden inzwischen
ebenfalls gesichert, darunter Krankenhäuser.

Oder bei der Eisenbahn, bei der die gesamte Einrichtung und alle Lagerhallen
vollständig geplündert wurden, selbst leere Container wurden weggeschafft; es
wurde allerdings nicht gebrandschatzt. Kürzlich erschien ein britischer
General, rief die Angestellten zusammen und ließ jedem 20 Dollar
Überbrückungsgeld auszahlen. Priorität soll jetzt der Ausbau der Linie
Baghdad-Basra bekommen.

Den Amerikanern fehlt weitgehend das Verständnis für die irakische Mentalität,
sie zeigen oft wenig Fingerspitzengefühl. Mir wurde berichtet, daß eine
Panzerbesatzung Halbwüchsige auf der Straße anhielt und nach Mädchen fragte,
für die sie 10 Dollar bot. In Ghasalija in Schordscha wurde ein Bordell
eingerichtet, vor dem Haus steht ein Schild mit der Aufschrift "Nur für
Amerikaner!" Solche Erlebnisse langen, um jeden Iraker zum Patrioten zu
machen, der sich gegen die ungeliebten Besatzer wendet.

Die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung gegenüber den Amerikanern ist sehr
verhalten. Zwar äußern sich viele Iraker sehr dankbar und zufrieden darüber,
daß das Regime von Saddam Hussein verschwunden ist. Die Amerikaner werden aber
zunehmend für Anarchie und Mangel verantwortlich gemacht, alle wollen, daß sie
bald wieder gehen, und immer häufiger werden die Stimmen, die sagen, daß es
unter Saddam schlimm war, jetzt aber noch viel schlimmer ist. Jedermann äußert
die Überzeugung, daß die Iraker anfangen werden zu kämpfen gegen die
Besatzungsmacht, wenn die Lage nicht schnell besser wird und sie sich nicht
bald zurückzieht.


Der Aufbau einer neuen Ordnung und der Kampf um die Macht

Die Bevölkerung befindet sich im Schockzustand. In der Zeit von Anarchie und
Umbruch warten die meisten ab, andere hingegen versuchen um so intensiver, das
Vakuum zu füllen. Prognosen über die weitere Entwicklung sind nicht möglich.
Es können nur die Kräfte benannt werden, die als Vektoren im Kräftespiel eine
Rolle spielen, und mögliche Szenarien benannt werden.

Über Saddam Hussein und sein Regime sind alle sehr enttäuscht – auch die
pragmatischen früheren Parteigänger und diejenigen, die keine Konflikte mit
seiner Regierung hatten. Informationen, die vorher nicht bekannt waren oder
nur wenigen, werden jetzt überall verbreitet. Wut löst die grenzenlose
Bereicherungsmanie aus, während die Bevölkerung darbte. In einigen Palästen
(z. B. unter einem Hundekäfig oder hinter einer falschen Wand) wurden Hunderte
Millionen Dollar in bar aufgefunden. Kein einziger normaler Iraker hatte
jemals Zugang in seine herrlich ausgestatteten Palastanlagen gehabt, während
nach dem Sturz jetzt Plünderer und Schaulustige jedes Detail begutachten
konnten. Die Gefängnisse wurden geöffnet und die grausamen Haftbedingungen
bekannt, und über den Sadismus insbesondere von Saddams ältestem Sohn Udai
kursieren jetzt allerlei Einzelheiten.

Man registriert mit Verbitterung, daß Saddam Hussein dem Land sehr geschadet
hat, einen aussichtslosen Krieg nicht verhindert und keine Maßnahmen zur
Rettung der Bevölkerung getroffen hat. Auch über seine Regierung hört man sehr
viel Bitterkeit. Ein Arzt, der seit der Revolution von 1968 von der Ideologie
der Baath-Partei überzeugt war und der zu dem behandelnden Ärzteteam gehörte,
das noch am 7.4. zusammen mit Saddam in einem Gebäude übernachtete, erzählte,
daß die Krankenhäuser vor dem Krieg kein Material (etwa Narkose-mittel oder
Bruchschienen) zur Versorgung von Notfällen, wie sie im Krieg in großer Anzahl
zu erwarten sind, zugewiesen bekommen haben, und meinte, daß der dafür
zuständige frühere Gesundheitsminister "als erster gehängt" werden müsse.

Es gilt als völlig unwahrscheinlich, daß Saddam wiederkommen kann. Seine
Netzwerke sind aber keineswegs völlig zerschlagen. Es heißt, daß er sich jetzt
unauffindbar verberge und die Entwicklungen beobachte, aber noch sehr viel
Unheil anrichten könne – insbesondere, wenn der Unmut in der Bevölkerung
weiter anwächst über die Anarchie und den sich nur äußerst langsam
verbessernden Vorsorgungsnotstand.

Die irakische Auslandsopposition (der Irakische Nationalkongreß INC),
insbesondere die Fraktion von Ahmed Tschalabi, ist sehr aktiv. Sie bildet
Milizen, besetzt die besten Häuser und Gelände, aus denen die Anwohner
vertrieben werden, und ist gut bei Kasse (angeblich haben diese Milizen auch
mehrere Banken ausgeraubt). Sie versucht, Einfluß bei der zukünftigen
Regierungsbildung zu gewinnen, ihre Machtmittel sind Gewalt und Geld, sie
verfügt aber über keine authentische Basis in der Bevölkerung, ist unbeliebt
und wird nicht akzeptiert, weil sie als Organisation aus dem Ausland empfunden
wird und in den letzten Jahrzehnten keine Verbindung mit der realen Situation
des Landes und den Problemen der Bevölkerung hatte.

Die Schiiten sind am besten organisiert und können jederzeit eine
eindrucksvolle Massenbewegung in Millionenstärke mobilisieren. Vom Ausland
nahezu unbemerkt hatten sie seit 1994 im Südirak weitgehende Autonomie bei der
Wahrung ihrer inneren Belange erhalten und diese gut genutzt. Ihre geistliche
Führung sorgt für Ruhe und Ordnung, in den von ihnen kontrollierten Städten
Nadschaf und Kerbela gab es keine Plünderungen, und sie haben auch eine
islamische Gerichtsbarkeit eingesetzt. Ihre Strategien sind sehr flexibel – es
wird erwartet, daß sie zunächst auf demokratischem Wege entsprechend ihrer
Bevölkerungsmehrheit auch die Majorisierung der zukünftigen Regierung
anstreben und dann in einem weiteren Schritt einen islamischen Staat
aufzubauen versuchen werden. Sie sind absolut gegen die Besatzungsmacht
eingestellt und verfügen über ein großes Reservoir für den Dschihad. Reisende
aus Nadschaf berichten, daß die Schiiten dort bereits auf den Guerillakampf
vorbereitet sind. Die gebildete Bevölkerung von Baghdad hält die Schiiten für
die Größe, die am schwersten einzukalkulieren ist, aber an deren
Entschlossenheit und Gewaltpotentialen überhaupt kein Zweifel besteht.

"Die Amerikaner lieben das Leben, aber die Schiiten hassen das Leben. Sie sind
stolz darauf, im Kampf gegen die Amerikaner in den Tod zu gehen, wenn ihr
Führer ihnen das befiehlt." (ein schiitischer Hochschullehrer)

Der Iran feuert: "Weg mit den Amerikanern", und der Dschihad wird propagiert.
Aus dem Iran wird zur Zeit der einzige Fernsehsendung (Al-Alam "Die Welt")
ausgestrahlt, die in Baghdad ohne Satellit empfangen werden kann und die in
der Aufmachung der Nachrichtensender CNN und Al-Dschasira unentwegt einen
islamischen Staat propagiert. Angeblich sind zahlreiche iranische Milizen
bereits im Lande. Der Einfluß des Iran auf die irakischen Schiiten und auf die
internen Machtverhältnisse ist von außen nicht zu bestimmen.

Die Millionen der städtischen Bevölkerung mit einer sunnitischen Mehrheit,
insbesondere im Großraum Baghdad, sind unkoordiniert – sie werden weder durch
die Zugehörigkeit zu Stammesverbänden, noch durch religiöse Identität noch
durch ein gemeinsames politisches Programm geeint.

Die Mittel- und Oberschicht verfügt über viel Erfahrung in Administration und
Wirtschaft, sie garantierte das Funktionieren des Staates auch in
schwierigsten Zeiten unter Embargo-Bedingungen. Diese Schicht will, daß
diejenigen die zukünftige Regierung bestimmen, die in den harten Zeiten von
drei Kriegen und 13 Jahren Embargo ihre Kompetenz bewiesen haben und über
genaue Kenntnisse der Gesellschaft und ihrer Probleme verfügen, die sich
persönlich aber nicht korrumpiert haben. Es bilden sich allerdings noch
keinerlei Mehrheitsverhältnisse oder verbindende Konzepte ab. Im gegenwärtig
herrschenden Vakuum will jede Fraktion Einfluß gewinnen. Inzwischen haben sich
dutzende Parteien gebildet, die Partikularinteressen vertreten. Selbst
Splittergruppen versuchen, z. B. mit Demonstrationen und Transparenten vor dem
Palestine-Hotel auf sich aufmerksam zu machen. Und "jeder kleine Angestellte
denkt, daß er jetzt Ölminister werden kann" (so ein dort tätiger Direktor).



Es gibt allerdings keine Strukturen für demokratische Prozesse, ein Forum für
öffentliche Diskussionen und Mehrheitsbildung fehlt. Einigkeit besteht nur
darin, daß man weder einen islamischen Staat noch ein amerikanisches Regime
noch eine von den USA eingesetzte oder abhängige Regierung will. Die
Besatzungsmacht hat noch kein Mittel gefunden, die Bevölkerung zu erreichen.
Der Propagandasender ("Der neue Irak") überzeugt niemanden, "er bringt nicht
das, was die Iraker hören wollen" – der Informationsgehalt ist dürftig, und
die Präsentation ist schwach ("furchtbares Arabisch"). Die öffentliche Meinung
bildet sich hauptsächlich durch privaten Meinungsaustausch und Mundpropaganda;
eine Schlüsselrolle spielen auch die Moscheen mit der Verkündigung
islamistischer Konzepte. Die nach dem Krieg nur vereinzelt neu aufkommenden
Medien (darunter einige Zeitungen früherer Oppositionsgruppen) erreichen nur
Bruchteile der Bevölkerung und sind für eine mehrheitsfähige Willensbildung
ungeeignet.


Zukünftige Szenarien

Die Bandbreite denkbarer Szenarien ist groß – langsame Stabilisierung,
Bürgerkrieg, Auseinanderfallen des Landes, Aufstände und Guerillakampf.
Prognosen über die weitere Entwicklung sind jedoch noch völlig unsicher. In
den innerirakischen Diskussionen werden folgende hypothetische Konstellationen
beschrieben.

Die Besatzungsmächte gelten als Fremde, und eine von ihnen installierte
Regierung wird nicht akzeptiert. Sie müßten schnell und effizient die
Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Versorgung befriedigen, andernfalls droht
die allgemeine Unzufriedenheit in offene Aggression umzuschlagen, die in
Aufstände und Guerillakrieg übergehen kann. Der Wiederaufbau geschieht
allerdings bisher nur sehr langsam und weitgehend konzeptlos.
Wenn "die Leute von Außen" – z. B. Tschalabi und der Irakische Nationalkongreß
– eine bestimmende Rolle in der neuen Regierung erhalten, gilt es als
wahrscheinlich, daß sich die Bevölkerung allgemein, Sunniten und Schiiten,
geeint gegen sie erheben wird. Die Folge wären kriegerische Wirren, vielleicht
ein Bürgerkrieg.
Wenn die organisierten Schiiten die Mehrheit übernehmen und den Irak in einen
islamischen Staat umzuwandeln versuchen, wird die sunnitische, städtische
Bevölkerung heftigen Widerstand leisten; möglich sind Sezessionen oder
Bürgerkrieg.
Eine sunnitische Diktatur durch einen starken Mann in der Nachfolge von Saddam
Hussein könnte sich wahrscheinlich durchsetzen, wäre aber das genaue Gegenteil
des vorgegebenen Kriegziels der "Befreiung des Irak" und eine weitere
Enttäuschung für das Volk.
Es fehlt einerseits eine mehrheitlich anerkannte Integrationsfigur (am meisten
Zustimmung scheint der frühere Außenminister Patschetschi zu finden, der
allerdings schon sehr betagt ist), andererseits ist die Gefahr der gezielten
Destabilisierung durch die alten Netzwerke, die die Anarchie und allgemeine
Unzufriedenheit für Sabotage und Aufstände nutzen wollen, keineswegs
überwunden.
Angesichts der Unsicherheit und explosiven Stimmung wird häufig folgender
Standpunkt vertreten: Das Bombardement hat aufgehört – aber der eigentliche
Krieg hat noch gar nicht erst angefangen!


Die Wirtschaft

Lediglich in den Kreisen der Geschäftswelt sind einigermaßen optimistische
Töne zu hören. Zwar räumen auch die Geschäftsleute, die ganz pragmatisch mit
dem alten Regime umgegangen sind, sich an westlicher Effizienz orientieren und
viele Auslandskontakte haben, ein, daß 3-6 Monate schwierigster, instabiler
Zeiten wahrscheinlich sind; sie erwarten dann aber eine deutliche Besserung.

Diese Schicht glaubt fest, daß sich die USA die "besten Stücke" sichern werden
(vor allem den gesamten Ölsektor und sämtliche Großprojekte), sie ist aber
ebenfalls der Meinung, daß im Privatsektor die besten Chancen für Deutschland
und Europa bestehen.

"Amerikanische Produkte sind seit 40 Jahren unbekannt. Die Iraker schätzen
deutsche Erzeugnisse über alles, sie sind der Inbegriff von Qualität und
Prestige, mit diesen sind sie vertraut. Wenn sich die Handelsbedingungen
liberalisieren, entsteht für diese Produkte eine riesige Nachfrage."

Noch allerdings gibt es keine staatliche Infrastruktur; Ansprechpartner für
Kontakte und Verhandlungen fehlen, oder sie haben keinerlei Kompetenzen.

 Abschließend gebe ich Kernsätze aus der privaten Diskussion mit einem
Geschäftsmann, einem Arzt und einem Professor wieder, die im Ausland (USA,
England und Deutschland) ausgebildet wurden und die das Innenleben der
irakischen Gesellschaft sehr genau kennen. Diese Meinungen sind natürlich
einseitig und z. T. auch naiv, geben aber sehr gut die Atmosphäre wieder, die
charakteristisch für die Gespräche in der früher staatstragenden, gebildeten
Schicht ist.

Über Saddam Hussein:

Saddam hat unseren Idealismus, den Irak aufzubauen und groß und stark zu
machen, mißbraucht. Ohne ihn wäre der Irak jetzt eine Mittelmacht wie Indien
und Pakistan. Er hat Sklaven aus uns gemacht. Er hat das ganze Land auf seine
Person zugeschnitten wie ein ausgetretenes Paar Schuhe. Seine Cliquen haben
uns alles Schlechte vorgemacht, und das ist jetzt allgemeine Gewohnheit
geworden. Udai (der älteste Sohn) hat Saddam zu Fall gebracht, weil dieser ihm
freie Hand gelassen hat. Er war die Ursache, daß 80 Prozent der Bevölkerung
Saddam, die Baath-Partei und das ganze Regime hassen. Er war ein Sadist. Er
hat Saddam politisch getötet.

Über die Amerikaner:

Niemand vertraut ihnen, sie sind dumm, sie haben kein Verständnis, keine
Ideen, zu wenig Informationen über den Irak. Sie sind nicht gekommen, um den
Irak zu befreien, sondern um unseren Reichtum zu nehmen. Sie haben eine viel
größere Schweinerei (a much bigger mess) angerichtet, als wir sie vorher
hatten. Sie haben nur zerstört, aber nichts gebracht, um das Alte zu ersetzen.
Sie sollten jetzt mit dem Wiederaufbau anfangen – warum lassen sie die Dinge
in diesem Chaos? Die Zeit wird kommen, da werden die Leute auf den Straßen
sagen: "Saddam war besser!" Wenn die Amerikaner bleiben, werden wir sie
bekämpfen. Jeden Tag zwei Tote – da kommt mit der Zeit eine ganze Menge
zusammen. Sie sind in einem Sumpf gelandet. Die Leute, die sie mitgebracht
haben, die jetzt politisch aktiv sind, kennen sich nicht aus. Diese Figuren
werden niemals akzeptiert werden.



Über die UNO-Inspekteure (UNSCOM bzw. UNMOVIC):

Blix verdient 80.000 Dollar im Monat, die anderen Inspekteure 60.000 Dollar;
der Irak bezahlt ihr Gehalt. Sie haben nur ein einziges Interesse: daß das
Embargo möglichst lange dauert, damit sie weiter Geld verdienen können. Unter
ganz fadenscheinigen Argumenten verlängern sie ihre stets ergebnislosen
Nachforschungen und wollen auch die belanglosesten Details überprüfen. Ohne
ihre Inspektionen würden sie ihre Einkommen verlieren. Dabei wissen sie seit
1995 ganz genau, daß der Irak keine Massenvernichtungswaffen mehr besitzt –
als Hussein Kamil (der übergelaufene und später liquidierte Schwiegersohn
Saddams) der CIA alle Details verraten und ganz ausdrücklich bestätigt hat,
daß der Irak alle diese Waffen zerstört hat.

Über Demokratie:

Wir sind nicht darauf vorbereitet. Demokratie braucht Zeit – bestimmt 50
Jahre. Wir werden eine Demokratie mißbrauchen. Was ist der Vorteil von
Demokratie, wenn wir nicht sicher schlafen können? Demokratie ist das
Schlimmste, was dem Irak passieren kann. Wir brauchen sie nicht, wir brauchen
jemand, der uns beschützt. Wir brauchen eine Diktatur, aber moderat!

Über die Zukunftsaussichten:

Unsere Zukunft ist sehr, sehr dunkel. Wir haben Angst um unser Leben. Wir
wollen nur überleben. Die Gesellschaft ist zerfallen, es herrscht völlige
Gesetzlosigkeit. Es gibt kein Vertrauen, in nichts. Die Iraker werden
vielleicht vergeben, aber niemals vergessen, was geschehen ist.

10. Mai 2003

Prof. Dr. Walter Sommerfeld







Anhang

Wortlaut der Augenzeugenberichte über die Plünderung des Iraq Museums

(wiedergegeben in "Aspekte", ZDF, Freitag, 9. Mai 2003, 22.30 – 23.00 Uhr)



Ferid Hagi (Geschäftsmann):

Wer hat’s ausgeraubt? Wer zuerst drin war – die Amerikaner!

Husan Ibrahim (Anwohner):

Sie haben das Museum aufgebrochen, angeblich, um nach Freischärlern zu suchen.
Und dann haben sie den Plünderern gesagt: "Kommt nur rein!"

Waidi Sami (Wachmann der benachbarten Moschee):

Die Amerikaner sind vorgefahren und haben Objekte aus dem Museum mitgenommen.

Husan Ibrahim: Am ersten Tag, als die Amerikaner hierherkamen, stand ein
Panzer direkt neben dem Museum. Da war das Gebäude noch völlig unbeschädigt,
und im Garten des Museums hielten fünf Irakis Wache. Ja, das waren Iraker. Ich
ging mit den Wächtern zu dem US-Panzer und bat die Soldaten, das Museum zu
beschützen. Sie sagten: "OK!" (Doch die Panzer wurden abgezogen, die Wächter
in ihrem Erdloch blieben allein.)

Waidi Sami: Um 4.30 Uhr am nächsten Morgen kamen die Amerikaner zurück, und
ein Offizier forderte seine Leute auf, ins Museum einzudringen. Außer den
amerikanischen Soldaten waren auch Kuweitis dabei. ... Die haben
archäologische Objekte aus dem Museum geholt und sie in sieben Lastwagen der
US-Armee verstaut. Begleitet von gepanzerten Wagen ist der ganze Konvoi dann
abgefahren.

Husan Ibrahim: Später tauchte ein Jeep mit fünf Amerikanern auf. Sie
behaupteten, daß sich im Museum Saddams Fedajin versteckt hielten. Sie brachen
den Seiteneingang auf und waren eine ganze Weile da drin. Dann riefen sie den
Leuten, die sich draußen versammelt hatten, zu: "Come in!" Und so begann das
Plündern.

Ferid Hagi: Die Amerikaner hatten doch alles hier unter Kontrolle, und sie
haben mitgehen lassen, was ihnen gefiel. Und dann haben sie die Plünderer
reingelassen, um ihren eigenen Diebstahl zu vertuschen. Nun wollen sie alles
diesem Mob in die Schuhe schieben. ... Die Amerikaner waren doch als erste im
Museum, und die wußten genau, was die wirklichen Schätze waren. Die primitiven
Plünderer haben nur den Ramsch mitgenommen. Aber Gott im Himmel hat’s gesehen,
und irgendwann werden wir alle vor ihm stehen.



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